EuGH-Urteil: Lückenlose Arbeitszeiterfassung für alle
von Gabriele Kaier, 16.05.2019
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat entschieden, dass Arbeitgeber in der Europäischen Union die Arbeitszeiten ihrer Arbeitnehmer systematisch und vollständig erfassen müssen. Denn nur so ließe sich überprüfen, ob zulässige Arbeitszeiten überschritten würden. Das bedeutet, dass es nicht mehr ausreicht nur die Überstunden, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehen, aufzuzeichnen, wie das beispielsweise in Deutschland oder Spanien bis dato vorgeschrieben war.
Der EU-Grundrechtecharta verpflichtet
Der EuGH begründete die Entscheidung zur vollständigen Arbeitszeiterfassung mit der Verbürgung des Rechts aller EU-Bürger: Jeder Arbeitnehmer hat das Grundrecht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit und auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten. Hierzu verpflichten die EU-Arbeitszeitrichtlinie und die Grundrechtecharta der Europäischen Union. Nach Ansicht der Richter am EuGH könne ohne ein System der Arbeitszeiterfassung weder die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung, noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden. Außerdem sei es sonst für die Arbeitnehmer, die den strukturell unterlegenen Part darstellen, äußerst schwierig und praktisch unmöglich ihre Rechte durchzusetzen. Ein Instrument zur Zeiterfassung erleichtere den Nachweis von Rechtsverletzungen und zuständige Behörden hätten eine leichtere Kontrolle der Arbeitnehmerrechte.Was bringt die vollständige Arbeitszeiterfassung?
Die lückenlose Aufzeichnung der Arbeitszeit soll mehr Transparenz und Präzision schaffen. Ob die Arbeitszeitvorgaben eingehalten werden, können die Behörden nur kontrollieren, wenn sie verlässliche Daten haben. Bis dato musste beispielsweise in Deutschland und Spanien nur die über acht Stunden täglich hinausgehende Arbeitszeit erfasst werden oder es wurde gar nichts dokumentiert.Ein verlässliches, zugängliches und objektives System
Die EU-Mitgliedsstaaten müssen Arbeitgeber nun dazu verpflichten, ein “objektives, verlässliches und zugängliches System” zur Arbeitszeiterfassung einzurichten. Wie genau das Erfassungssystem zu gestalten ist, gibt der EuGH nicht vor. Das Ziel ist aber ganz klar, die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer zu schützen und Überforderung zu vermeiden.- “Objektiv” heißt von Wertung unabhängig, d.h. es muss genau geregelt sein, wann die Arbeitszeit beginnt und endet. Weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer dürfen das frei entscheiden.
- “Verlässlich” bedeutet, dass die Daten richtig erfasst, auf dem aktuellen Stand und möglichst sicher vor Manipulation geschützt sein müssen. Wenn die Daten einmal erfasst sind, darf es nicht möglich sein, sie einfach zu verändern.
- Mit “zugänglich” ist gemeint, dass das System einsehbar sein muss, damit Behörden oder Betriebsräte die Arbeitszeiten nachprüfen können.
Was bedeutet das konkret für Unternehmen?
Ob es nach diesem Urteil in den Mitgliedsstaaten neuer Gesetze bedarf oder ob derzeitige Rechtsnormen dem Urteil gemäß ausgelegt werden können, ist noch unsicher und entscheiden die nationalen Gerichte. Aber Unternehmen sollten aufgrund des EuGH-Urteils schon jetzt mit der lückenlosen Arbeitszeiterfassung beginnen um sich rechtskonform zu verhalten. Denn Unternehmen, die das nicht tun, sondern auf ein neues Gesetz warten, gehen bewusst das Risiko ein, später vor Gericht zu unterliegen. Arbeitnehmer können überdies jetzt schon von ihrem Arbeitgeber verlangen, die Arbeitszeit vollständig aufzuzeichnen. Wenn die Firma einen Betriebsrat hat, könnte dieser bereits jetzt aktiv werden. Unternehmen, die bis dato unsystematisch, beispielsweise auf losen Zetteln erfassen, haben den größten Handlungsbedarf.Die wichtigsten Fakten zum EuGH-Urteil
- Was hat der EuGH entschieden?
- Wer hatte geklagt?
- Was ist das Ziel?
- Wie ist die Rechtslage bis dato in Deutschland?
- Wie ist die Regelung derzeit in Österreich?
- Wie sieht die Rechtslage aktuell in der Schweiz aus?
- Wie reagierten die Gewerkschaften in Deutschland?
- Was sagten die Gewerkschaften in Österreich zum Urteil?
- Und was die Arbeitgeber?
- Welche Folgen wird das Urteil für Arbeitnehmer haben?
- Wann werden bereits jetzt schon die Arbeitszeiten systematisch erfasst?
- Wie schnell kann dieses Gerichtsurteil umgesetzt werden?
Was hat der EuGH entschieden?
Die tägliche Arbeitszeit muss vollständig erfasst werden. Die Richter urteilten im Sinne der EU-Arbeitszeitrichtlinie und der Grundrechtecharta der Europäischen Union. Denn nur so lasse sich überprüfen, ob zulässige Arbeitszeiten überschritten würden, so das Urteil. Die Mitgliedsstaaten der EU werden aufgefordert Unternehmen zu einem objektiven, verlässlichen und zugänglichen Zeiterfassungssystem zu verpflichten. Wie die einzelnen Länder das gestalten, bleibt ihnen überlassen. Es sei erlaubt, auf Besonderheiten eines Tätigkeitsbereichs und “Eigenheiten bestimmter Unternehmen” einzugehen. Beispielsweise könne auf die Größe eines Unternehmens eingegangen werden.Wer hatte geklagt?
Die spanische Gewerkschaft CCOO hatte die Deutsche Bank in Spanien verklagt. Die Arbeitnehmervertreter forderten die Einführung eines Systems zur Erfassung der gesamten Arbeitszeit. Nur wenn die gesamte Arbeitszeit dokumentiert werde, könne die Zahl der Überstunden korrekt ermittelt werden. Derzeit würden 53,7 Prozent der Überstunden in Spanien gar nicht erst erfasst. Der Nationale Gerichtshof in Madrid brachte den Streit vor den EuGH.Was ist das Ziel?
Eine umfassende Zeiterfassung stärkt die Rechte von Arbeitnehmern, nach Ansicht der Richterinnen und Richter am EuGH. Mit einem System zur Arbeitszeiterfassung könne die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden, ihre zeitliche Verteilung und auch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden. Mit einer Zeiterfassung könnten Arbeitnehmer einfacher nachweisen, wenn ihre Rechte verletzt würden. Denn Beschäftigte in einem Arbeitsverhältnis seien in der schwächeren Position und ohne ein Instrument zur Zeiterfassung sei es für Arbeitnehmer äußerst schwierig oder gar praktisch unmöglich, ihre Rechte durchzusetzen.Wie ist die Rechtslage bis dato in Deutschland?
Das Urteil hat in Deutschland, wie wohl auch in anderen Ländern der EU, weitreichende Folgen. Denn es werden bis dato nicht in allen Branchen beziehungsweise Betrieben die Arbeitszeiten systematisch erfasst. In Deutschland gibt es bis dato keine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung. Der Paragraf 16 des Arbeitszeitgesetzes regelt, dass lediglich Überstunden, die über die werktägliche Arbeitszeit hinausgehen, dokumentiert werden müssen. Allerdings gibt es Tarifverträge, die Unternehmen zu einer Zeiterfassung verpflichten, und natürlich Betriebe, die sich selbst für ein solches System entschieden haben. In der Regel gilt: Beschäftigte dürfen 48 Stunden pro Woche arbeiten. Jeden Tag müssen elf Stunden Pause am Stück eingehalten werden, einmal in der Woche ist eine Pause von 24 Stunden vorgeschrieben.Wie ist Regelung derzeit in Österreich?
In Österreich sind Arbeitgeber auch jetzt schon verpflichtet, Arbeitszeitaufzeichnungen zu führen. Aber auch in Österreich werden Überstunden nicht entsprechend registriert und bezahlt, so Philipp Maier, Rechtsanwalt bei Baker McKenzie in Wien. Auch die Einhaltung von Ruhezeiten, Ruhepausen und die Fälligkeit von Zuschlägen könne man laut Maier nur kontrollieren, wenn Arbeitszeiten genau aufgezeichnet werden. Auch dies stelle die bestehende Rechtslage in Österreich infrage. Dem Ruf aus der Wirtschaft nach einer Vertrauensarbeitszeit, bei der auf Stundenaufzeichnungen völlig verzichtet werden könnte, hätte, so Maier gegenüber dem Standard, der EuGH jedenfalls einen Riegel vorgeschoben.Wie sieht die Rechtslage aktuell in der Schweiz aus?
Die Schweiz kennt bereits eine Pflicht der Zeiterfassung. Der von den Sozialpartnern ausgehandelte Kompromiss sieht bis dato einen Verzicht der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung vor, wenn folgende Bedingungen gleichzeitig erfüllt sind:- Bei einem jährlichen Bruttoeinkommen des Angestellten (inkl. Bonuszahlungen) von mehr als 120.000 Franken.
- Der Angestellte über große Zeitautonomie oder Entscheidungsbefugnisse verfügt und seine Arbeitszeiten selber planen kann.
- Der Angestellte dem schriftlich zustimmt und verzichtet.